Alkohol und Gewalt treten oft im Doppelpack auf. Neun von zehn in Schlägereien Beteiligte sind zuvor bereits alkoholisiert und auch bei jedem dritten Fall von schwerer oder tödlicher Körperverletzung, von Vergewaltigung oder Raubmord ist Alkohol im Spiel. Das zeigen Statistiken, die am Suchtkongress präsentiert wurden, der derzeit in Köln stattfindet. "Gewalt infolge von Alkohol ist kein Randgruppenthema. Es ist eher die Regel als die Ausnahme", betont Jeanette Piram, Leiterin der Drogenhilfe Freiburg. Da unser Kulturkreis Alkohol nicht als Sucht- sondern stets nur als Nahrungsmittel behandle, sei das Problem vernachlässigt worden. "Die meiste alkoholische Aggression geschieht im familiären Kreis. In Diskussion kommt das Thema jedoch erst langsam und nur dort, wo alkoholisierte Jugendliche in Diskotheken oder Partyzonen zu Straftätern werden."
Die weit verbreitete Meinung, dass Jugendliche mehr als früher trinken, ist laut Statistik nicht haltbar. "Der Alkoholkonsum unter Jugendlichen stagniert oder ist sogar leicht rückläufig. Allerdings steigt der problematische Konsum, der in der Öffentlichkeit viel stärker auffällt", berichtet Piram. Betroffen seien vor allem junge Männer, da diese häufiger Gewalt in Bars oder Discos erleben, während dies bei jungen Frauen vorwiegend im häuslichen Bereich geschieht. Trinken und Schlägereien hätten in früheren Generationen zu beliebten und anerkannten Wochenendvergnügen gezählt. "Heute wird Gewalt gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert, das übermäßige Trinken toleriert man jedoch weiter. Damit trennt man den Konsum des Alkohols von seinen Folgen, was ein großes Problem ist. Denn zurecht verstehen einen die Jugendlichen nicht, wenn man sie vor Aggressionen durch Alkohol warnen will." Entsprechend fehle es auch in der Behandlung an Kooperation der Bereiche "Gewalt" und "Sucht".
Dass Alkohol die Schwelle der Gewaltbereitschaft sinken lasse, schreibt Piram seiner kurzsichtig machenden und Hemmungen lösenden Wirkungen zu. "Wer betrunken ist, nimmt Reize aus der Umgebung weniger gut wahr. Übersehen werden somit auch Vorwarnungen von Aggressionen, die einem sonst das Einhalten gebieten würden. Andererseits wirkt Alkohol angstlösend und lässt Betrunkene auf Situationen zugehen, in die sie sich in nüchternem Zustand aus Angst nicht trauen würden." Diese Wirkung sei bei Jugendlichen und Erwachsenen gleich. "Allerdings sind Jugendliche weitaus impulsiver und bedenken die Konsequenzen weniger. Ein Student findet Gewalt eher als probates Mittel um den Platz in der Gesellschaft einzunehmen als jemand im fortgeschrittenen Alter, der bereits im Berufsleben steht."
Die meisten Dramen als Folgen von Alkohol geschehen allerdings fernab von der Öffentlichkeit im privaten Umfeld der Familie. Kinder von Abhängigen leiden deutlich häufiger unter Gewalt, was ihre Prädispositionen für spätere Abhängigkeiten nur weiter verstärkt. Das Problem werde jedoch kaum in seinem tatsächlichen Ausmaß berücksichtigt, da man Vorkommnisse vielmehr als tragische Einzelfälle behandle und es in Bestandteile zerlege, kritisiert Piram. "Man betrachtet Gewalt durch Alkohol etwa aus der Frauensicht und errichtet Frauenhäuser. Es fehlt jedoch an Männerhäusern für Männer, die von den Frauen geschlagen werden, oder an Schutzmaßnahmen für Pflegebedürftige, die von ihren Pflegern misshandelt werden." Der Weiterbestand solcher gesellschaftlichen Tabus bringe für die Gesellschaft kaum Vorteile, so die Suchtexpertin. "Erst wenn man offen über das Thema Alkohol und Gewalt spricht, können richtige Maßnahmen getroffen werden."
Um Alkoholexzesse und deren negative Folgen zu vermeiden, fordert Piram ein ganzheitliches Umdenken in Bezug auf das Trinken. "Alkohol soll mehr als Genuß verstanden werden und weniger als Mittel zum Zweck". Sinnvoll seien bessere Überprüfungen des Jugendschutzes, eine Abschaffung von Preispromotionen wie "Happy Hour" oder Freigetränke, die Beschränkung alkoholverkaufender Einzelhändler sowie ein Verbot der Alkoholwerbung an jugendrelevanten Plätzen. Auch die Anhebung des generellen Alters für Alkoholkonsum auf 18 Jahre, die derzeit in vielen EU-Ländern geschieht, begrüßt Piram. "Wie bei allen Suchtmitteln hat die Zugangsnähe wesentlichen Einfluss auf das Ausmaß der Verwendung." Wichtig sei jedoch auch, Jugendlichen Alternativen anzubieten. "Erkennt man etwa das Motiv der Langweile als Hauptauslöser für jugendliche Alkoholexzesse, so muss man eben ein anderes Angebot bieten, das Jugendliche anspricht." Ähnlich sinnvoll seien auch Maßnahmen, mit denen man allzu ruhige oder verlassene Plätze in Städten, die Jugendlichen zu großen Freiraum geben, neu belebt.
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