Artikel: Light Seeing Tour[ Kolumne ]
26.04.2005  |   Klicks: 4160   |   Kommentare: 9   |   Autor: kroko
Light Seeing Tour
Die Marketingabteilung von sh.de will Quote sehen: "Schreib doch mal über Sehenswertes in Hamburg, wohnst ja schon 'ne Weile da.", "Oder über Harald Juhnke, das bringts immer!", "Du musst auf der Papstwelle reiten, solange sie noch zieht!" Knifflig... Aber Kolumne ist halt Wunschkonzert.

"Vom Hamburger Sight-Seeing-Bus überrollt", sagte der Papst* zu Harald Juhnke.

* Johannes Paul II.




Ich zeige Euch Hamburg, wie es keiner kennt.

Manch abenteuerliche Location offenbart erst dem gewohnheitsmäßigen Vorüberschlenderer ihre intimen Geheimnisse.

Da wo der Rödingsmarkt auf die Ost-West-Straße führt, liegt zum Beispiel die "Oberfinanzdirektion Hamburg".

Der morbid pyramidale Sog des Wortes "Oberfinanzdirektion" zieht mich immer wieder in seinen Bann.
Oft murmele ich gedankenverloren stundenlang "Oberfinanzdirektion, Oberfinanzdirektion" vor mich hin, so wie andere Leute Volksmusik hören oder Horrorfilme nebenher laufen lassen, um ständig das angenehme Kribbeln gruseliger Urängste zu spüren.

Auf meinem Weg zur Arbeit radele ich täglich an der Oberfinanzdirektion vorbei, an just der Stelle, an der auch der bunt lackierte "Hamburger City-Tour" Stadtrundfahrtbus seinen Startpunkt hat.

Vermutlich verliert der Stadtbus-City-Tour-Führer aber nicht ein Wort über die unbedingt sehenswürdige Oberfinanzdirektion, sondern schwärmt seinen Fahrgästen vielsprachig vom Hamburger Michel vor.
"Wir biegen jetzt nach Westen auf die Ost-West-Straße ab und sind dann auch gleich beim Hamburger Michel, wo Sie mit dem Fahrstuhl oder zu Fuß zur 132 Meter hohen Spitze des Kirchturms hochsteigen dürfen. "
Da freuen sich die Bus fahrenden Leute aus aller Welt aufs Fahrstuhlfahren und Treppensteigen, denn wenn man in Deutschland ist, freut man sich immer, wenn der Führer etwas sagt.

Der Stadtbus ist übrigens mit lustigen, sehr rudimentär gezeichneten Strichmännchen bemalt.
Auf der Rückseite des Busses ist ein männliches Strichmännchen zu sehen, welches seine aus drei Strichen bestehende Hand auf das sehr strichförmige Hinterteil seiner Strichweibchenbegleiterin legt, untertitelt mit dem Satz: "Schatz, ich zeige Dir Hamburg, wie Du es nicht kennst."

Das ist als Comic-Lektüre auf dem Weg zur Arbeit sehr unterhaltsam, wenn der Bus vor einem fährt, und man sich Unachtsamerweise anschickt, ihn rechts (=Steuerbord) überholen zu wollen.
Da, um Geld zu sparen, der Citybus-Tour-Führer auch gleichzeitig City-Tour-Busfahrer ist, hat er natürlich keine Zeit, seine Steuerbordseite im Rückspiegel zu überprüfen, ob sich da nicht etwa Radfahrer zwischen Bus und Oberfinanzdirektion vorbeischlängeln wollen.

Während ich noch über Doppeldeutigkeit und Marketingwirkung von Strichmännchen an Busfassaden nachdenke, schlägt auch der City-Bus-Führer das Steuer nach rechts um.

"Das wird knapp", kommentiert der Oberfinanzdirektionsbeamte, Akten links liegen lassend, aus seinem Fenster auf Straße, Bus und Radfahrer blickend.




"Vom Hamburger Sight-Seeing-Bus überrollt", sagt der polnische Papst* zu Harald Juhnke.
* Johannes Paul II.

Leider sind der polnische Papst und Harald Juhnke inzwischen töter als der durchschnittlich besoldete Oberfinanzdirektionsbeamtete.
Ich ahne dunkel, was das für meine aktuelle Situation bedeuten könnte.
Nur um ganz sicher zu gehen stelle ich die klassische Frage frisch Verstorbener: "Wo bin ich?"

Der Mann in Anzug und Lackschuh – unverkennbar Harald Juhnke – schlägt dem Papst fröhlich auf die Soutane. "Haste dat jehört, Paulchen? Wo er is fracht er. Nu kieck Dir mal umm, watt jlobsten wode bist?"

Ich kiecke mir also um und der Ort an dem wir uns befinden kommt mir sehr – sehr – bekannt vor.
Treue Kolumnenleser können schon mal raten, welcher Ort das sein könnte.

Im Sammelsurium einfältiger Fragen schieße ich gleich die nächste nach: "Bin ich tot?"

Der Papst hustet leicht, vermutlich weil Harald etwas zu heftig zugelangt hat und murmelt verdrossen: "Das habe ich mich die letzten Jahre auch sehr häufig gefragt."

Harald gibt den Berliner Entertainer. "Da ham die Leutchen immer jedacht icke wär demännt. Also wenn ick Dir mal sahren darf, dann sahr ick Dir, wennde vom Sight-Seeinj-Bus überfaahn wirst, vastehste mir, dann brochste Dir wejen Deene Leberprobleme ooch keene Sorjen mehr schieben. Da bisste ers mal wech vom Fensta! Da jlotzte nur noch von ooben uff die Weltjeschichte druff, vastehste?"

Mit ungewohnten Situationen anfreunden und immer alles positiv sehen, sage ich mir.
"Dann darf ich jetzt alles wissen, was ich schon immer wissen wollte?
- Was ist der Sinn unseres Lebens?
- Wer hat John F. Kennedy ermordet?
- Warum ist P nicht NP? ***"
*** eine bisher unbeantwortete,
populäre mathematische Fragestellung

Der Papst berührt mich mit seinem kleinen Finger und auf einen Schlag weiß ich die Antworten auf meine drei Fragen.
"Ach", sage ich enttäuscht, "das ist alles? Hätte ich mir auch selber denken können."


"Aber warum sieht die mir präsentierte Szenerie des Jenseits aus wie eine exakte Kopie des Mannheimer Schneckenhofes im Diesseits?", frage ich.

"Weil dies härrr", antwortet der Papst mit gespielt osteuropäischem Akzent – denn da wo wir sind könnte er auch akzentfrei sprechen - , "weil dies härrr derrr schönnste Orrrt derrr gannzehn Wält ist."

"Du meinst", duze ich den Ex-Pontifex, "weil Mannheim und der Schneckenhof für mich die schönsten Orte in meinem Leben waren, manifestiert sich dieses persönliche Ideal für mich im Jenseits?"

"Nee, dett haste nich so jaaanz kapiert", sagt Harald.
"Det is nich deene personalisierte Wunschvorstellunj, det is voll objektiv der scheenste Ort der janzen Welt. Voll Oooobjektiiiv, vastehste?"
Johannes Paul II. nickt zustimmend.

So baff war ich in meinem ganzen Leben nicht.
DAS hätte ich nicht mal in meiner euphorischsten Kolumne behauptet. Aber wenn der Papst und Harald das sagen ...

"Das Paradies ist also eine immerwährende Schneckenhoffete, man kommt immer sofort an Karten, alles für umme und am Schluss schleppt man immer eine ab?"

"Wir sind nur das Empfangskomitee der Wartehalle für Eventualrückkehrer.", korrigiert der Papst meine Erwartungen.

"Ick kriej jrade über jöttliche Einjebung zujeflüstert, datte dem Jevatter nochmal so von die Schippe jehüpft bist. Jlückwunsch, kleener kroko."

"Ich muss zurück?" frage ich enttäuscht.

"Da sei mal froh", sagt Harald ernst und in perfektem Hochdeutsch, "denn das Ende des Lebens ist tatsächlich das Ende und immerwährende Dunkelheit."
Ich muss an die Oberfinanzdirektion denken, und das Gewahrsein der Endlichkeit menschlicher Existenz entsetzt meine Seele.

"Frrrrrohhhhäää gesääägggnneettttee Pfingstääääään", sagt der Papst zum Abschied, um mich wieder etwas aufzumuntern.




Erinnerungen spulen zurück wie ein Videoband.

REWIND
STOP

PLAY
Haarscharf schrammt der Bus an mir vorbei und ich biege auf die Ost-West-Straße ab, die Sonne in meinem Rücken lässt die Michaeliskirche hell erstrahlen.

Wäre es nicht schön, wenn dort 115 deutsche Entertainer zusammenkämen, um aus ihrer Mitte einen Nachfolger für Harald Juhnke zu wählen?

"Aber das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert."
Erzählen uns zumindest auf ihrer Route festgefahrene Päpste, Rundreise- und andere Führer.

Zeigt mir bitte eine Welt, wie sie sie nicht kennen.





P.S.: Wollt Ihr wissen, wer John F. Kennedy wirklich ermordet hat?
 
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9 Kommentare zu diesem Artikel
27.04.05, 07:52 Uhr #1 von Schnulli
dat is doch mal jutes jebabbel...
27.04.05, 10:37 Uhr #2 von blackwidow
herrleh, herrleh, herrleh! (berlinerisch, kurz für: herrlich)
haste schön jemacht kroko
27.04.05, 13:36 Uhr #3 von SodaF
wenn ich jetzt noch den Unterschied zwischen P und NP wüßte...
27.04.05, 15:14 Uhr #4 von mbu1201
ick bin janz stolz uff dir men jong
27.04.05, 21:17 Uhr #5 von chango
Muß unbedingt mal wieder nach Hamburg glaub manche Sachen kenn ich doch noch nicht so genau
30.04.05, 21:49 Uhr #6 von Olle
@Stoffl schaun wir uns dann auch die "Oberfinanzdirektion Hamburg" an?
@Grosspapa sieh dich vor
03.05.05, 18:10 Uhr #7 von kittykat
wer hat den nun John.F.Kennedy ermordet?
10.05.05, 18:21 Uhr #8 von ZakMcKracken
sehr schön, aber das i-tüpfelchen wäre noch die einarbeitung des wortes "feinstaub" gewesen
11.05.05, 14:27 Uhr #9 von oSoulSistao
Da frage ich mich nur, wie ich das all die Jahre überlebt habe Dicker Kuss in die Heimat
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